Das letzte Jahr
Die Russen waren also einmarschiert und mit ihnen die neue Ordnung. Das fing damit an, dass das erste Vieh aus den Ställen geholt wurde, Uhren und dergleichen Dinge ihre Besitzer wechselten, die Mühle geplündert und verwüstet wurde, Frauen und Mädchen sich verstecken mussten und eben die totale Rechtlosigkeit eingetreten war. In den ersten Tagen mussten sämtliche Radios, Kraftfahrzeuge und, soweit überhaupt vorhanden, alle Waffen abgeliefert werden.
In einer Versammlung, zu der alle Bewohner auf dem Dorfplatz zu erscheinen hatten, wurden Verbote und Gebote bekanntgegeben und Georg Wiesner kurzerhand zum Bürgermeister ernannt. Er muss an dieser Stelle ausdrücklich betont werden, dass diese unfreiwillige Ernennung für Baitzen ein Glücksfall war. Dieser Mann hat sich um das Dorf verdient gemacht und so manches Mal mehr geleistet und erreicht, als in dieser äußerst schwierigen Zeit erwartet werden konnte.
Das benachbarte Kamenz wurde eine mehrere Tausend Mann starke Garnison. In der Baitzner Mühle befand sich ein russisches Kommando mit einem Sergeanten und sieben Mann.
Normalerweise waren die Russen friedliche, freundliche Menschen. Ganz offensichtlich mochten sie Deutsche lieber als Polen. Nur, am häufigsten waren solche Russen unterwegs, die Beute machen wollten oder betrunken waren, meistens beides. Betrunkene Russen waren unberechenbar und gefährlich. Die russische Besatzung in der Mühle verhielt sich korrekt und stellte für die umliegenden Gehöfte sogar einen gewissen Schutz dar.
Bald zeigte sich, dass die Übergriffe herumstreunender Russen überhand nahmen. In dieser Zeit wurden Überlegungen angestellt, wie dem am besten zu begegnen wäre. Schließlich wurde ein ziviler Ordnungsdienst aufgestellt, der im Grunde keinerlei Befugnisse hatte, ja an und für sich gar nicht erlaubt war. Baitzen wurde in drei Abschnitte gegliedert: Niederdorf, Oberdorf und Klein-Baitzen. Mit Einbruch der Dunkelheit machten sich drei Doppelstreifen auf den Weg. Es wurde so eingerichtet, dass sich die beiden Männer des Oberdorfes abwechselnd mit den anderen beiden Streifen trafen. So konnten eventuelle Beobachtungen weitergegeben werden oder Hilfe geleistet werden. Alle zwei Stunden erfolgte die Ablösung durch die nächste Streife. Sehr viele Männer und junge Burschen gab es ja damals nicht im Dorf, sodass man mindestens jede zweite Nacht an der Reihe war. Wenn auch der Schutz nicht umfassend war, so hat er doch einiges bewirkt.
Einer der Ordnungsdienstler des Oberdorfes war Heinz Herden. Eines Nachts wurde er aus dem Schlaf geweckt, weil bei Patelts Russen eingedrungen waren. Heinz Herden wurde auf dem Dorfplatz erschossen. Er starb, weil er anderen Menschen helfen wollte. Wir wollen Heinz Herden nie vergessen.
Die Russen waren also einmarschiert und mit ihnen die neue Ordnung. Das fing damit an, dass das erste Vieh aus den Ställen geholt wurde, Uhren und dergleichen Dinge ihre Besitzer wechselten, die Mühle geplündert und verwüstet wurde, Frauen und Mädchen sich verstecken mussten und eben die totale Rechtlosigkeit eingetreten war. In den ersten Tagen mussten sämtliche Radios, Kraftfahrzeuge und, soweit überhaupt vorhanden, alle Waffen abgeliefert werden.
In einer Versammlung, zu der alle Bewohner auf dem Dorfplatz zu erscheinen hatten, wurden Verbote und Gebote bekanntgegeben und Georg Wiesner kurzerhand zum Bürgermeister ernannt. Er muss an dieser Stelle ausdrücklich betont werden, dass diese unfreiwillige Ernennung für Baitzen ein Glücksfall war. Dieser Mann hat sich um das Dorf verdient gemacht und so manches Mal mehr geleistet und erreicht, als in dieser äußerst schwierigen Zeit erwartet werden konnte.
Das benachbarte Kamenz wurde eine mehrere Tausend Mann starke Garnison. In der Baitzner Mühle befand sich ein russisches Kommando mit einem Sergeanten und sieben Mann.
Normalerweise waren die Russen friedliche, freundliche Menschen. Ganz offensichtlich mochten sie Deutsche lieber als Polen. Nur, am häufigsten waren solche Russen unterwegs, die Beute machen wollten oder betrunken waren, meistens beides. Betrunkene Russen waren unberechenbar und gefährlich. Die russische Besatzung in der Mühle verhielt sich korrekt und stellte für die umliegenden Gehöfte sogar einen gewissen Schutz dar.
Bald zeigte sich, dass die Übergriffe herumstreunender Russen überhand nahmen. In dieser Zeit wurden Überlegungen angestellt, wie dem am besten zu begegnen wäre. Schließlich wurde ein ziviler Ordnungsdienst aufgestellt, der im Grunde keinerlei Befugnisse hatte, ja an und für sich gar nicht erlaubt war. Baitzen wurde in drei Abschnitte gegliedert: Niederdorf, Oberdorf und Klein-Baitzen. Mit Einbruch der Dunkelheit machten sich drei Doppelstreifen auf den Weg. Es wurde so eingerichtet, dass sich die beiden Männer des Oberdorfes abwechselnd mit den anderen beiden Streifen trafen. So konnten eventuelle Beobachtungen weitergegeben werden oder Hilfe geleistet werden. Alle zwei Stunden erfolgte die Ablösung durch die nächste Streife. Sehr viele Männer und junge Burschen gab es ja damals nicht im Dorf, sodass man mindestens jede zweite Nacht an der Reihe war. Wenn auch der Schutz nicht umfassend war, so hat er doch einiges bewirkt.
Einer der Ordnungsdienstler des Oberdorfes war Heinz Herden. Eines Nachts wurde er aus dem Schlaf geweckt, weil bei Patelts Russen eingedrungen waren. Heinz Herden wurde auf dem Dorfplatz erschossen. Er starb, weil er anderen Menschen helfen wollte. Wir wollen Heinz Herden nie vergessen.
Die Ruine des Hohenzollern-Mausoleums (2005)
Das Schloss Kamenz wurde ebenso verwüstet wie die dortige katholische und die evangelische Kirche. Obendrein setzten die Russen acht Monate nach Kriegsende, im Januar 1946, in Erinnerung an irgendwelche gewonnene Schlacht das Schloss in Brand.Das im Park, zwischen Baitzen und dem Bahnhof Kamenz gelegene Mausoleum wurde aufgebrochen und die sieben mumifizierten Leichen aus ihren Särgen gerissen und danach ins Freie geworfen. Weil sich das mehrfach wiederholte, wurden die Toten schließlich von Deutschen im Park begraben.
1945/1946 mussten Baitzner in der Mühle, bei der Eisenbahn, im „Öllager“ am Bahnhof und im „Hofgarten“, der großen Kamenzer Gärtnerei, arbeiten. Geld gab es dafür nicht, nur ab und zu einige „Produkte“. Das war dann vielleicht 1/3 Brot und 100 Gramm Öl für eine Woche Arbeit.
Nach den Wirren der ersten Wochen begann sich einiges zu normalisieren. Lebensmittel wie Mehl und Grieß, von der Gemeinde organisiert, gelangten unregelmäßig und in kleinen Mengen zur Ausgabe. Der Welzel-Fleischer brachte es sogar fertig, hin und wieder etwas Fleisch unter die Bewohner zu verteilen. Die Bauern – es waren ja in der Mehrzahl Frauen – gingen ihrer Arbeit nach. Viel Vieh gab es ja nicht mehr in den Ställen, doch es wurde ein neuer Anfang versucht.
Aber bald kam eine neue Unruhe in das Dorf. Der erste Pole tauchte auf, und nach und nach folgten weitere. Sie nahmen in Beschlag, was ihnen gefiel, geduldet und gestützt durch die russischen Besatzer. Das Dorf Protzan bei Frankenstein wollte solche Methoden nicht einfach hinnehmen und versuchte, die Polen aus dem Dorf zu weisen. Doch bald rückte polnische „Miliz“ ein und prügelte die gesamte Bevölkerung des Dorfes auf die Straße, wo sie über Frankenstein, Kamenz und Baitzen in Richtung Oberschlesien getrieben wurden. Das war sicherlich auch als abschreckendes Beispiel für Baitzen und andere Gemeinden gedacht.
Alle Deutschen hatten damals weiße Armbinden mit einem schwarzen „N“ zu tragen. Das „N“ stand für Niemiec=Deutscher.
Auf dem Kamenzer Bahnhof tauchten Güterzüge auf, die vollgepfercht mit deutschen Zivilisten waren, einschließlich Kleinkinder und alter Leute Diese Menschen waren schon wochenlang unterwegs; um ihre Versorgung kümmerte sich niemand. Solche Züge wurden einfach für Tage und Wochen irgendwo abgestellt. Die Menschen mussten zusehen, wie sie in dem ausgehungerten und ausgeplünderten Land etwas zu essen bekamen. Viele kamen nach Baitzen, um etwas zu ergattern. Pfarrer Scholz und Georg Wiesner organisierten eine Essenaktion. Jeder Haushalt sollte versuchen, täglich eine bestimmte Menge Suppe bereitzustellen. Um möglichst einheitlich zu kochen, wurde jeweils am Vortage bekannt gegeben, welche Art Suppe morgen dran wäre. Wiesner und seine Helfer fuhren dann mit Pferd und Wagen durch das Dorf und sammelten in Milchkannen das Essen ein. Anschließend brachten sie es zum Bahnhof. Wir glauben sagen zu dürfen, dass sich die Baitzner großartig verhalten haben und in hohem Maße hilfsbereit waren.
Es war eine Zeit der großen Ungewissheit. Wo waren die Männer, Väter, Söhne? Hatten sie den Krieg überlebt, wann würden sie heimkehren?
Was war mit den immer häufiger aufkreuzenden Polen? Warum stärkten die Russen ihnen den Rücken, obwohl sie sie nicht besonders mochten?
Es gab immer wieder tröstende Gerüchte: Kam der 1., hieß es: bis zum 15. müssen sie verschwunden sein. Dann wieder: bis zum 1. müssen die Polen raus. Aber bald Frage und Antwort zugleich: Oder wir!?
Es gab erste, gerüchteweise Hinweise, wie die Alliierten Deutschland aufteilen und dass wir mit dem Schlimmsten rechnen müssten: Mit der Vertreibung!
Im Herbst 1945 traft auf dem Bahnhof Kamenz ein Transport Polen ein, die aus einem Dorf in Ostgalizien stammten. Weil die Sowjetunion Ostpolen annektiert hatte, mussten diese Polen ihre Heimat verlassen. Ihre bewegliche Habe, auch das Vieh, durften sie mitnehmen. Als sie in Baitzen eintrafen, hatten wir natürlich keine Ahnung von den Zusammenhängen. Sie kamen als geschlossene Gemeinde in ein Dorf, fanden wohl auch mehr vor, als sie zu Hause besessen, mussten jedoch mit den Deutschen teilen: Haus, Hof, Lebensmittel. Die Mehrzahl dieser Galizier muss man aber anders beurteilen als die Polen, die wir bis jetzt kennengelernt hatten. Sie waren selbst verunsichert und traten bescheiden auf. Obwohl sie von Scharfmachern angehalten wurden, herrischer aufzutreten, blieben sie zurückhaltend und versuchten, in gutem Einvernehmen mit den Deutschen zu leben. Gelegentliches Misstrauen und Missverständnisse führten natürlich zu unangenehmen Erscheinungen.
Man muss diese Zeit erlebt haben, mit all ihren negativen Darstellungen der Deutschen und umgekehrt, den schlechten Erfahrungen, die wir mit Russen und Polen gemacht hatten, um zu verstehen, dass das verhältnismäßig gute Einvernehmen zwischen den Galiziern und den Baitznern durchaus nicht selbstverständlich war.
In Pfarrhaus und Kirche zog ein polnischer Geistlicher ein. Pfarrer Scholz wurde mehr und mehr zurückgedrängt.
Im Kreise Frankenstein erkrankten viele Menschen an Typhus. Am stärksten betroffen wurden die Gemeinden Hemmersdorf und Heinrichswalde.
Aus den Aufzeichnungen der Walburga Drescher, Baitzen, damals 15 Jahre alt:
1946
12. März
Alfred erkrankt an Typus.
17. März
Mit Bittners eine Wallfahrt nach Wartha gemacht.
21. März
Die Miliz will unseren Pfarrer abholen. Um 1 Uhr versammelt sich die ganze Gemeinde vor dem Pfarrhof, um Abschied zu nehmen von ihrem Geistlichen Carl Scholz. Jeder Einzelne gibt ihm die Hand zum letzten Gruß. Dann segnet er seine Pfarrkinder zum letzten Mal. Alle knien sich hin. Ein ergreifendes Bild. Die Polizei kommt. Auf einmal geht es durch die ganze Menge: „Der Herr Pfarrer kann hierbleiben.“ Welche Freude! Alles geht in die Kirche, um Gott dafür zu danken. Der Pfarrer hält Heiligen Segen und Te Deum.
22. März
Der Pfarrer kommt zu Alfred, um ihm die heiligen Sakramente zu spenden. Nachmittags wird der Herr Pfarrer binnen kurzer Zeit abgeholt. Wer es noch erfährt, läuft schnell noch mal auf den Kirchplatz, um ihn noch einmal zu sehen. Er gibt noch einmal den letzten Segen. Bei nur Wenigen Abschied genommen, muss er schon ins Auto. Gleich geht es los. Manche Träne floss da noch.Alfred wurde ins Kamenzer Josephs-Stift geschafft.
23. März Der Pfarrer schreibt noch einen Brief an seine Gemeinde. Er ist in Glatz im Lager und fährt bald mit dem Zug ab.
An dieser Stelle sei auch des Vorgängers von Pfarrer Karl Scholz, des Kaplans Rudolf Sabisch, gedacht. Aus dem Buch „Vom Sterben schlesischer Priester 1945/1946 entnehmen wir:
Rudolf Sabisch
Pfarrer von Krehlau, Kr. Wohlau
Geboren 11. Sept. 1909
Geweiht 5. April 1936
+ 8. Februar 1945
Erschossen
Er war beim Russeneinfall nicht geflohen, weil ein Teil seiner Gemeindemitglieder in Krehlau zurückgeblieben war. In einem Augenzeugenbericht heißt es:
„Unter diesen Frontzuständen verging langsam die erste Woche. Die Wut der Feinde wurde spürbar immer größer. Sie fand ihren Höhepunkt in den Nachmittagsstunden des 29. Januar 1945, als unser Seelsorger, Pfarrer Sabisch, kurzerhand vor unseren Augen niedergeschossen wurde. Die Kugel (Pistole) ging am rechten Auge vorbei, zerriss die Mundhöhle und kam am Hals hinter dem linken Ohr wieder heraus. Der Pfarrer sank sofort um, die Blutlache sammelte sich am Fußboden. Es hatte den Anschein, dass der Tod des Pfarrers bald eintreten würde. Ärztliche Hilfe war in dieser Zeit für Deutsche unmöglich. Die Schwestern ließen es dafür an aufopfernder Pflege nicht fehlen. Aber auch sie hatten unter den Frontumständen sehr viel zu leiden. Man plünderte ihnen das ganze Haus und bedrängte sie von allen Seiten. Eine Woche darauf mussten sie sogar unter russischem Befehl das Haus innerhalb von 10 Minuten geräumt haben. Ein jeder musste sofort fest zufassen, um das Allernotwendigste mitzunehmen. Die Kranken und die Gebrechlichen, unter ihnen der verwundete Pfarrer, wurden nun zur kalten Winterzeit auf die Straße gesetzt, bis uns endlich in der Nachbarschaft ein kleines Haus, das auch ausgeplündert und voller Unrat war, angewiesen wurde. Dort führten wir nun wochenlang ein armseliges Leben. Zu essen hatten wir wenig, der Raum für alle die Vielen war bei weitem nicht ausreichend. Die Kranken mussten übereinander hocken.Unter diesen schlimmen Verhältnissen fing nun bald ein großes Sterben an. Auch der verwundete Pfarrer siechte langsam dahin, und bewusstlos sah er seiner Auflösung entgegen. Zehn Tage nach seiner Verwundung, am 8. Februar 1945, starb nun in den frühen Morgenstunden der Pfarrer Rudolf Sabisch als Opfer pflichtgetreuer Berufsauffassung. Sein Leichnam wurde noch am selben Tage auf den Friedhof gebracht und in einem alten Priestergrab beigesetzt. Ein Priester konnte weder beim Sterben noch bei der Beerdigung zugegen sein. Für die Zurückgebliebenen begann nun eine verlassene, trostlose Zeit. Schutzlos waren wir alle der Willkür der Feinde ausgesetzt, bis sich langsam nach Monaten die Wut etwas legte.“
Das Schloss Kamenz wurde ebenso verwüstet wie die dortige katholische und die evangelische Kirche. Obendrein setzten die Russen acht Monate nach Kriegsende, im Januar 1946, in Erinnerung an irgendwelche gewonnene Schlacht das Schloss in Brand.Das im Park, zwischen Baitzen und dem Bahnhof Kamenz gelegene Mausoleum wurde aufgebrochen und die sieben mumifizierten Leichen aus ihren Särgen gerissen und danach ins Freie geworfen. Weil sich das mehrfach wiederholte, wurden die Toten schließlich von Deutschen im Park begraben.
1945/1946 mussten Baitzner in der Mühle, bei der Eisenbahn, im „Öllager“ am Bahnhof und im „Hofgarten“, der großen Kamenzer Gärtnerei, arbeiten. Geld gab es dafür nicht, nur ab und zu einige „Produkte“. Das war dann vielleicht 1/3 Brot und 100 Gramm Öl für eine Woche Arbeit.
Nach den Wirren der ersten Wochen begann sich einiges zu normalisieren. Lebensmittel wie Mehl und Grieß, von der Gemeinde organisiert, gelangten unregelmäßig und in kleinen Mengen zur Ausgabe. Der Welzel-Fleischer brachte es sogar fertig, hin und wieder etwas Fleisch unter die Bewohner zu verteilen. Die Bauern – es waren ja in der Mehrzahl Frauen – gingen ihrer Arbeit nach. Viel Vieh gab es ja nicht mehr in den Ställen, doch es wurde ein neuer Anfang versucht.
Aber bald kam eine neue Unruhe in das Dorf. Der erste Pole tauchte auf, und nach und nach folgten weitere. Sie nahmen in Beschlag, was ihnen gefiel, geduldet und gestützt durch die russischen Besatzer. Das Dorf Protzan bei Frankenstein wollte solche Methoden nicht einfach hinnehmen und versuchte, die Polen aus dem Dorf zu weisen. Doch bald rückte polnische „Miliz“ ein und prügelte die gesamte Bevölkerung des Dorfes auf die Straße, wo sie über Frankenstein, Kamenz und Baitzen in Richtung Oberschlesien getrieben wurden. Das war sicherlich auch als abschreckendes Beispiel für Baitzen und andere Gemeinden gedacht.
Alle Deutschen hatten damals weiße Armbinden mit einem schwarzen „N“ zu tragen. Das „N“ stand für Niemiec=Deutscher.
Auf dem Kamenzer Bahnhof tauchten Güterzüge auf, die vollgepfercht mit deutschen Zivilisten waren, einschließlich Kleinkinder und alter Leute Diese Menschen waren schon wochenlang unterwegs; um ihre Versorgung kümmerte sich niemand. Solche Züge wurden einfach für Tage und Wochen irgendwo abgestellt. Die Menschen mussten zusehen, wie sie in dem ausgehungerten und ausgeplünderten Land etwas zu essen bekamen. Viele kamen nach Baitzen, um etwas zu ergattern. Pfarrer Scholz und Georg Wiesner organisierten eine Essenaktion. Jeder Haushalt sollte versuchen, täglich eine bestimmte Menge Suppe bereitzustellen. Um möglichst einheitlich zu kochen, wurde jeweils am Vortage bekannt gegeben, welche Art Suppe morgen dran wäre. Wiesner und seine Helfer fuhren dann mit Pferd und Wagen durch das Dorf und sammelten in Milchkannen das Essen ein. Anschließend brachten sie es zum Bahnhof. Wir glauben sagen zu dürfen, dass sich die Baitzner großartig verhalten haben und in hohem Maße hilfsbereit waren.
Es war eine Zeit der großen Ungewissheit. Wo waren die Männer, Väter, Söhne? Hatten sie den Krieg überlebt, wann würden sie heimkehren?
Was war mit den immer häufiger aufkreuzenden Polen? Warum stärkten die Russen ihnen den Rücken, obwohl sie sie nicht besonders mochten?
Es gab immer wieder tröstende Gerüchte: Kam der 1., hieß es: bis zum 15. müssen sie verschwunden sein. Dann wieder: bis zum 1. müssen die Polen raus. Aber bald Frage und Antwort zugleich: Oder wir!?
Es gab erste, gerüchteweise Hinweise, wie die Alliierten Deutschland aufteilen und dass wir mit dem Schlimmsten rechnen müssten: Mit der Vertreibung!
Im Herbst 1945 traft auf dem Bahnhof Kamenz ein Transport Polen ein, die aus einem Dorf in Ostgalizien stammten. Weil die Sowjetunion Ostpolen annektiert hatte, mussten diese Polen ihre Heimat verlassen. Ihre bewegliche Habe, auch das Vieh, durften sie mitnehmen. Als sie in Baitzen eintrafen, hatten wir natürlich keine Ahnung von den Zusammenhängen. Sie kamen als geschlossene Gemeinde in ein Dorf, fanden wohl auch mehr vor, als sie zu Hause besessen, mussten jedoch mit den Deutschen teilen: Haus, Hof, Lebensmittel. Die Mehrzahl dieser Galizier muss man aber anders beurteilen als die Polen, die wir bis jetzt kennengelernt hatten. Sie waren selbst verunsichert und traten bescheiden auf. Obwohl sie von Scharfmachern angehalten wurden, herrischer aufzutreten, blieben sie zurückhaltend und versuchten, in gutem Einvernehmen mit den Deutschen zu leben. Gelegentliches Misstrauen und Missverständnisse führten natürlich zu unangenehmen Erscheinungen.
Man muss diese Zeit erlebt haben, mit all ihren negativen Darstellungen der Deutschen und umgekehrt, den schlechten Erfahrungen, die wir mit Russen und Polen gemacht hatten, um zu verstehen, dass das verhältnismäßig gute Einvernehmen zwischen den Galiziern und den Baitznern durchaus nicht selbstverständlich war.
In Pfarrhaus und Kirche zog ein polnischer Geistlicher ein. Pfarrer Scholz wurde mehr und mehr zurückgedrängt.
Im Kreise Frankenstein erkrankten viele Menschen an Typhus. Am stärksten betroffen wurden die Gemeinden Hemmersdorf und Heinrichswalde.
Aus den Aufzeichnungen der Walburga Drescher, Baitzen, damals 15 Jahre alt:
1946
12. März
Alfred erkrankt an Typus.
17. März
Mit Bittners eine Wallfahrt nach Wartha gemacht.
21. März
Die Miliz will unseren Pfarrer abholen. Um 1 Uhr versammelt sich die ganze Gemeinde vor dem Pfarrhof, um Abschied zu nehmen von ihrem Geistlichen Carl Scholz. Jeder Einzelne gibt ihm die Hand zum letzten Gruß. Dann segnet er seine Pfarrkinder zum letzten Mal. Alle knien sich hin. Ein ergreifendes Bild. Die Polizei kommt. Auf einmal geht es durch die ganze Menge: „Der Herr Pfarrer kann hierbleiben.“ Welche Freude! Alles geht in die Kirche, um Gott dafür zu danken. Der Pfarrer hält Heiligen Segen und Te Deum.
22. März
Der Pfarrer kommt zu Alfred, um ihm die heiligen Sakramente zu spenden. Nachmittags wird der Herr Pfarrer binnen kurzer Zeit abgeholt. Wer es noch erfährt, läuft schnell noch mal auf den Kirchplatz, um ihn noch einmal zu sehen. Er gibt noch einmal den letzten Segen. Bei nur Wenigen Abschied genommen, muss er schon ins Auto. Gleich geht es los. Manche Träne floss da noch.Alfred wurde ins Kamenzer Josephs-Stift geschafft.
23. März Der Pfarrer schreibt noch einen Brief an seine Gemeinde. Er ist in Glatz im Lager und fährt bald mit dem Zug ab.
An dieser Stelle sei auch des Vorgängers von Pfarrer Karl Scholz, des Kaplans Rudolf Sabisch, gedacht. Aus dem Buch „Vom Sterben schlesischer Priester 1945/1946 entnehmen wir:
Rudolf Sabisch
Pfarrer von Krehlau, Kr. Wohlau
Geboren 11. Sept. 1909
Geweiht 5. April 1936
+ 8. Februar 1945
Erschossen
Er war beim Russeneinfall nicht geflohen, weil ein Teil seiner Gemeindemitglieder in Krehlau zurückgeblieben war. In einem Augenzeugenbericht heißt es:
„Unter diesen Frontzuständen verging langsam die erste Woche. Die Wut der Feinde wurde spürbar immer größer. Sie fand ihren Höhepunkt in den Nachmittagsstunden des 29. Januar 1945, als unser Seelsorger, Pfarrer Sabisch, kurzerhand vor unseren Augen niedergeschossen wurde. Die Kugel (Pistole) ging am rechten Auge vorbei, zerriss die Mundhöhle und kam am Hals hinter dem linken Ohr wieder heraus. Der Pfarrer sank sofort um, die Blutlache sammelte sich am Fußboden. Es hatte den Anschein, dass der Tod des Pfarrers bald eintreten würde. Ärztliche Hilfe war in dieser Zeit für Deutsche unmöglich. Die Schwestern ließen es dafür an aufopfernder Pflege nicht fehlen. Aber auch sie hatten unter den Frontumständen sehr viel zu leiden. Man plünderte ihnen das ganze Haus und bedrängte sie von allen Seiten. Eine Woche darauf mussten sie sogar unter russischem Befehl das Haus innerhalb von 10 Minuten geräumt haben. Ein jeder musste sofort fest zufassen, um das Allernotwendigste mitzunehmen. Die Kranken und die Gebrechlichen, unter ihnen der verwundete Pfarrer, wurden nun zur kalten Winterzeit auf die Straße gesetzt, bis uns endlich in der Nachbarschaft ein kleines Haus, das auch ausgeplündert und voller Unrat war, angewiesen wurde. Dort führten wir nun wochenlang ein armseliges Leben. Zu essen hatten wir wenig, der Raum für alle die Vielen war bei weitem nicht ausreichend. Die Kranken mussten übereinander hocken.Unter diesen schlimmen Verhältnissen fing nun bald ein großes Sterben an. Auch der verwundete Pfarrer siechte langsam dahin, und bewusstlos sah er seiner Auflösung entgegen. Zehn Tage nach seiner Verwundung, am 8. Februar 1945, starb nun in den frühen Morgenstunden der Pfarrer Rudolf Sabisch als Opfer pflichtgetreuer Berufsauffassung. Sein Leichnam wurde noch am selben Tage auf den Friedhof gebracht und in einem alten Priestergrab beigesetzt. Ein Priester konnte weder beim Sterben noch bei der Beerdigung zugegen sein. Für die Zurückgebliebenen begann nun eine verlassene, trostlose Zeit. Schutzlos waren wir alle der Willkür der Feinde ausgesetzt, bis sich langsam nach Monaten die Wut etwas legte.“